Auch wenn diese Seite keinen Blick in ein
Buch ermöglicht, so hoffe ich doch, dass
sie einen Eindruck davon vermittelt.
Irene Teichmann
DER HALBE MANTEL
Vom Teilen
oder
Eine Legende auf die Füße gestellt
spitz kohl verlag
1. Auflage 2020
spitz kohl verlag Eckental
Irene Teichmann Rothenburger Str. 14
90542 Eckental
Telefon: (09126) 97 54
E-Mail: irene.teichmann@t-online.de
www.spitz-kohl-verlag.de
Druck und Bindung: SchmittDruck Hutweide 2 91077 Großenbuch
Umschlag: Irene Teichmann
Printed in Germany
ISBN 978-3-00064661-4
INHALTSVERZEICHNIS
DIE LEGENDE
DIE LEGENDE AUF DIE FÜSSE GESTELLT
DREI REISEN NACH AFRIKA
DAS EIGENE UND DIE FREMDEN
DER WEISSE MANN
ARM MACHT REICHT
ES KANN NICHT SO FORTGEHN
Anmerkungen
Dank
Für meine Enkel
ALLE ZITATE in diesem Text werden kursiv wiedergegeben,
Kursives in den Quellen wurde unterstrichen.
Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten, habe ich einige
Zitate an die neuen Rechtschreibregeln angepasst.
Der Mode, „gendergerecht“ zu schreiben, folge ich auch in diesem Buch nicht.
Einmal bin davon überzeugt, dass wir mit Sprachdiktaten weder die Gleichberechtigung
zwischen Mann und Frau fördern, noch das Denken von hartgesottenen Gegnern derselben beeinflussen werden. Zum anderen halte viele dieser neuen Wortschöpfungen weder
grammatikalisch, noch logisch für sinnvoll. So sage und schreibe ich u. a. weiterhin meist
„Bürger“, „Christen“, „Afrikaner“, „Europäer“ und meine damit IMMER Frauen und
Männer und manchmal auch Kinder!
Wir Menschen haben heute die Macht, uns selbst auszulöschen;
das scheint unsere ganze Errungenschaft zu sein. In Gottes Name
haben wir diese Reise unternommen und sind hier angelangt. Besser kriegt es
Gott (der weiße Gott) also nicht hin. Wenn dem so ist, dann ist es an der Zeit, i
hn zu ersetzen – nur womit?
James Baldwin
DIE LEGENDE
Es ist eine uralte Geschichte, und vielleicht steckt sie deshalb voller Wunder und voller Ereignisse, die uns heute son- derbar erscheinen. Die Geschichte begleitet Christen mehr als 1 600 Jahre, aber immer wieder auf andere Weise. Es ist die Ge- schichte vom Heiligen Martin, der mitten im kalten Winter seinen Mantel mit einem nackten Bettler teilte. Kinder ehren den Heiligen um den 11. November herum mit Laternenumzügen, Christen feiern ihn als eine Ikone der Nächstenliebe und Solidarität 1 in Gottesdiensten. Auch Atheisten wissen in den ersten Novembertagen einen köstlichen Braten, eine Martinsgans, zu schätzen.
1 Ursula Nothelle-Wildfeuer: Martin von Tours: Ikone der Nächstenliebe und Solidarität. In: Geb- hard Fürst (Hrsg.): Martin von Tours. Leitfigur für ein humanes Europa und die Zukunft des Christen- tums in Europa. Ostfildern 2016. S. 165.
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All diese Ehrungen gehen auf die Geschichte zurück, die Sulpicius Severus zum Ende des vierten Jahrhunderts in sei- nem Buch DAS LEBEN DES HEILIGEN MARTIN veröffentlicht hatte:
Eines Tages also, als Martin schon nichts mehr besaß außer seinen Waffen und seinem einfachen Militärmantel, begegnete er mitten in ei- nem Winter, der strenger war als gewöhnlich und so von Frost starrte, dass sehr viele Menschen an der gewaltigen Kälte starben, am Stadttor von Amiens einem nackten Bettler. Dieser flehte die Vorübergehenden an, sich sei- ner zu erbarmen, aber alle gingen an dem Elen- den vorbei. Da erkannte der von Gott erfüllte Mann, dass jener ihm vorbehalten sei, da die anderen keine Barmherzigkeit übten. Was aber sollte er tun? Er besaß nichts außer dem Soldatenmantel, den er trug; das Übrige hatte er nämlich für ein ähnlich gutes Werk bereits aufgebraucht. Entschlossen zog er also das Schwert, mit dem er gegürtet war, teilte den Mantel mitten entzwei und gab einen Teil da-
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von dem Armen und legte den anderen wieder an. Unterdessen lachten einige der Umstehenden, weil er mit seinem verstümmelten Gewand entstellt aussah. Viele aber, die bei besserem Verstand waren, seufzten tief, weil sie nichts dergleichen getan hatten, obwohl sie durchaus mehr besaßen und den Armen hätten bekleiden können, ohne sich selbst zu entblößen. 1
Die Geschichte vom Leben und Sterben des Heiligen Martin entstand in der Zeit, als das Römische Reich zu zerfallen begann. Es war an seine räumlichen und damit auch an seine wirtschaftlichen Grenzen gestoßen. Neue Gebiete konnten nicht erobert werden. Die Ernährung der Bevölkerung musste mit den bestehenden
Agrarflächen gesichert werden. Aber auch das bestehende Territorium war nicht sicher. Die Verteidigung der Grenzen, selbst der Erhalt der Verteidigungsbereitschaft
1 Sulpicius Severus: Vita sancti Martini. Das Leben des heiligen Martin. Stuttgart 2010. S. 15 und 17.
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kostete viel Geld und band viele Men- schen. Die Krise zeigte sich aber auch in den ländlichen Regionen. Die Bauern schafften es nicht mehr, die Erträge zu steigern, um die Bewohner der Städte und auch die zahlreichen Soldaten ausreichend zu ernähren. Die Folgen dieser Entwick- lung beschrieb der Römer Libanios in einer seiner Reden über die Armut:
In unserer Zeit kann man überall brachlie- gende Felder sehen ... Die im Dorfe zurückgebliebenen Menschen ... verschließen vor niemandem die Türen, weil derjenige, der nichts mehr besitzt, auch keine Räuber zu fürchten braucht... Überall ist Elend, Bettelei und Trä- nen, und dem Ackerbauern erscheint es bequemer, um Gnade zu bitten als den Boden zu be- stellen. 1 Auf diese Weise wuchs in den Städten das Heer der Bedürftigen. Aber die neuen Bewohner hatten dort keinen
1 Libanios: Zweite Rede über die Armut. Zitiert nach: Autorenkollektiv: Die Kulturgeschichte der Antike 2. Rom. Berlin 1978. S.481.
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Anspruch auf Zuwendungen. Diese stan- den nur den Mitgliedern der traditionellen städtischen Gemeinschaften zu.
Wie haben die Menschen den Zerfall des riesigen Reiches gesehen? War ihnen bewusst, was da um sie herum in Gang geraten war? Haben sie gespürt, dass sie in einer Zwischen-Zeit lebten, in der das Alte zerbrach und das Neue noch nicht trug? Ha- ben sie den fundamentalen Wertewandel gespürt? Beschlich sie schleichende Ratlosigkeit, gar eine „gesellschaftliche Angst“? 1
In jenen Jahren brach nicht nur die ökonomische Basis ihres Lebens zusammen, sondern auch ein Teil des Überbaus. Das Christentum begann die vielen Götter aus dem Alltag der Menschen zu verdrängen. Ab 380 sollte es mit staatlichem Segen nur noch einen Gott geben. Jupiter, Merkur, Venus, Minerva und die Glücksgöttin For-
1 Hans-Christian Huf (Hrsg.): Imperium. Vom Auf- stieg und Fall großer Reiche. O.O. 2004. S. 382.
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tuna, die in allen Klassen und Schichten, auch von den Sklaven verehrt wurde, sollten im Leben der Menschen keinen Platzmehr haben. Es „starben“ aber nach und nach viele Regional- und auch viele Hausgötter. An ihre Stelle traten neue „Personen“, „Götter zum Anfassen“. Der EINE Gott und sein Sohn waren einzigartig. Der eine war der strenge Übervater, der andere war sein Sohn. Beide waren mit ihren hohen moralischen Ansprüchen oft unerreichbar. Da brauchten die Menschen auch Menschen aus ihrer Umgebung, die besser waren als sie selbst, die Menschen waren und Menschen blieben, zu denen sie aufsehen, denen sie nacheifern, die sie um Beistand bitten konnten. In jenen Jahren entstehen viele Mönchsbiografien 1, in denen von Märtyrern erzählt wird, die ihr Leben für den neuen Glauben gaben, aber auch Geschichten von solchen, die in seinem
1 Autorenkollektiv: Die Kulturgeschichte der Antike 2. Rom. Berlin 1978. S. 514.
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Namen Wunder vollbrachten und so die Welt ein bisschen besser machten.
Eine davon ist DAS LEBEN DES HEILIGEN MARTIN von Sulpicius Severus.
Der Autor bietet die Geschichte des Martin von Tours als Biografie an. Er habe sie aufgezeichnet, schreibt er, weil er es für Unrecht hielt, dass die Verdienste eines so großen Mannes verborgen blieben 1.
Er erzählt die Geschichte eines Mannes aus dem Volk, eines römischen Soldaten wider Willen, der zum Christentum findet und gegen den Widerstand anderer Würdenträger - trotz seines Auftretens mit schmut- zigem Gewand und wirrem Haar 2 - vom Volk zum Bischof gewählt wird. Das Volk schreckte sein Aussehen nicht ab, so Severus, denn es besaß ein gesünderes Urteilsvermögen. 3
In diesem Text spiegelt sich auch der Wandel im Christentum jener Zeit wider.
1 Sulpicius Severus. A.a.O. S.
9. 2 A.a.O. S. 30
f.
3 A.a.O. S. 31.
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